
Geschlechtersensible Medizin
Im Februar 2022 hat die pronova BKK eine bundesweite repräsentative Befragung von 1.000 Erwachsenen zum Thema Gendermedizin durchführen lassen.
39 % der Befragten waren sich sicher: Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern werden in der medizinischen Forschung hinreichend berücksichtigt. 20 % waren hingegen der Überzeugung, dass die Erkenntnisse der medizinischen Forschung vor allem auf der Erforschung der männlichen Gesundheit beruht.
Was meinen Sie:
Wer hat wohl recht?

Männerorientierte Forschung
Die überraschende Antwort: Bis in die 1990er Jahre wurden Krankheiten und die Wirkung von Arzneimitteln tatsächlich fast ausschließlich an Männern erforscht. Derzeit nehmen an klinischen Studien überwiegend männliche Probanden teil, der Anteil der Frauen schwankt, liegt aber oft nur bei etwa 30 Prozent. Gründe dafür sind die stärkeren Hormonschwankungen bei Frauen durch ihren Zyklus, die Einnahme von Verhütungsmitteln, Schwangerschaften sowie Unterschiede vor und nach den Wechseljahren. Dennoch werden Medikamente im Anschluss an klinische Studien für Männer und Frauen in gleicher Dosierung empfohlen.
Unterschiedliche Symptome bei Frauen und Männern
83 Prozent der Deutschen gehen davon aus, dass Männer und Frauen unterschiedliche Krankheitssymptome haben können. Vor allem Frauen rechnen damit. Doch worin diese Differenzen genau liegen, ist weniger bekannt. Was steckt dahinter? Wir baten unsere Expertin Professorin Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione um Einordnung der Ergebnisse. Sie ist Inhaberin des Lehrstuhls für gendersensible Medizin an der Universität Bielefeld und der Radboud-Universität Nijmegen. Ihre Antwort:
„Nicht alle Frauen haben andere Symptome, aber es kann vorkommen. Das klassische Beispiel ist der Herzinfarkt, der quasi den Startschuss für die Entwicklung der gendersensiblen Medizin darstellt. Die Hauptsymptomatik für beide Geschlechter sind Brustschmerzen. Vor allem bei jüngeren Frauen traten diese jedoch weniger auf, sie haben stattdessen atypische Symptome wie Übelkeit und Schwindel. Die betroffenen Frauen und auch die behandelnden Ärztinnen und Ärzte können häufig die Gefahr nicht richtig einschätzen, in der Vergangenheit hat dies zu Fehldiagnosen und zu mehr Todesfällen geführt.“
Doch auch die Symptome von Männern können von der medizinischen Norm abweichen, wie Professorin Oertelt-Prigione erläutert:
„Autoimmunerkrankungen treten eher bei Frauen auf, darum werden sie bei Männern schwerer diagnostiziert. Auch Osteoporose gilt als Frauenleiden. Obwohl 30 bis 40 Prozent der Männer über 70 Jahren daran leiden, werden sie nicht systematisch daraufhin untersucht. Häufig stellen Ärzte die Diagnose erst, wenn keine präventive Therapie mehr möglich ist und schon Knochen gebrochen sind.“
Gleichbehandlung der Geschlechter? Aus medizinischer Sicht oft keine gute Idee.
Frauen und Männer können also auf unterschiedliche Weise krank sein und geschlechtsspezifisch andere Symptome zeigen. Die Ursache für die Andersartigkeit beginnt bereits auf der Ebene der Zellen: Ganz gleich, ob Hirn-, Herz- oder Leberzelle – je nach Geschlecht sind bereits die Zellen anders aufgebaut. Das wiederum beruht auf den verschiedenen Geschlechtschromosomen (XY bei Männern, XX bei Frauen). Die sind auch verantwortlich für die Anteile an Fett- und Muskelmasse, die Funktionen von Herz, Kreislauf und Immunsystem.
Männer verfügen überdies über ein größeres Blutvolumen. Das sorgt für eine bessere Durchblutung der inneren Organe. Beides sind Faktoren, die dafür sorgen, dass Medikamente für den Körper besser und schneller verfügbar sind. Auch die Rezeptoren – das sind die Andockstellen im Körper, an denen Wirkstoffe aufgenommen werden – unterscheiden sich je nach Geschlecht. Und die Blutwerte? Die haben bei Frauen und Männern jeweils eigene Normbereiche. Ebenso schwankt je nach Geschlecht der Bedarf bei zahlreichen Vitaminen und Mineralstoffen. Die Unterschiede wirken sich bis auf die Ebene der Verdauung aus – und damit auch darauf, wie Medikamente vom Körper aufgenommen werden.

Medikamente können je nach Geschlecht anders wirken – und Ärzte anders reagieren
Laut der Studie der pronova BKK rechnen immerhin 78 Prozent der Befragten damit, dass die Geschlechter auf Medikamente unterschiedlich ansprechen. Dazu meint die Gendermedizinerin:
„Frauen leiden generell mehr unter Nebenwirkungen von Pharmaprodukten. Das wurde gesellschaftlich aber lange toleriert. In Studien wurden Medikamente verstärkt an Männern getestet, Geschlechtsunterschiede wurden nicht berücksichtigt. Auch zu Corona haben wir klinische Studien analysiert und festgestellt, dass das Geschlecht hier kaum beachtet wurde, obwohl gesellschaftlich bekannt war, dass Männer und Frauen unterschiedlich betroffen sind.“
Der Studie zufolge beklagen sich 67 Prozent der Befragten darüber, dass sie von Ärztinnen und Ärzten keine Informationen zu unterschiedlichen Wirkungen von Medikamenten erhalten – vor allem Frauen vermissen dies. Und 35 Prozent geben an, nach der Schilderung ihrer Symptome nicht ernst genommen worden zu sein. Die Wissenschaftlerin kann dies nur bestätigen:
„Der Wandel zur personengerichteten Medizin mit dem Ziel, einen kooperativen Prozess zwischen allen Beteiligten zu schaffen, beginnt erst. Dafür müssen Medizinerinnen und Mediziner ihre Deutungshoheit aufgeben, den Patienten als Experten für die eigene Gesundheit wahrnehmen und schauen, wie die Therapie individuell am besten passt. Andere Länder wie die Niederlande, Kanada oder Großbritannien sind da weiter. Aber auch die jüngere Generation treibt diesen Wandel voran.“
Wie geht es weiter?
86 Prozent der in der Studie Befragten sehen den Gesetzgeber in der Pflicht, klare Vorgaben zu machen. Doch welche könnten das sein? Professorin Oertelt-Prigione hat dazu bereits konkrete Vorstellungen:
„Ministerien, EU-Kommission und Ärzteschaft müssen tätig werden, die gesellschaftliche Aufmerksamkeit ist da. Beispielsweise muss die Politik dafür sorgen, dass nur noch Studien finanziert werden, die Gender berücksichtigen. Dort, wo die Datenlage bereits gut ist, wie in der Kardiologie, können die Ergebnisse zu geschlechterspezifischen Unterschieden aufgelistet werden. Fehlendes Datenmaterial sollte gezielt durch neue Studien beschafft werden. So können Leitlinienveränderungen angeschoben und Therapien geschlechterspezifisch angepasst werden. Die geschlechtersensible Medizin sollte ein Querschnittsthema für alle Forschenden werden. Forschungsergebnisse aus Dänemark und den USA bestätigen: Je mehr Frauen im Forschungsteam sind, desto eher findet eine Geschlechteranalyse statt. Der Generationenwechsel wird hier noch mehr bewirken.“

Professorin Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione
Hätten Sie’s gewusst?
Ein hoher Östrogenspiegel kann die Wirkung mancher Arzneimittel steigern oder aber den Wirkstoffabbau beschleunigen.
Frauen nehmen im Durchschnitt wegen der längeren Reise durch Magen und Darm größere Substanzmengen aus den verabreichten Medikamenten auf. Der Wirkstoffabbau in der Leber dauert ebenfalls oft länger.
Auch bei durchtrainierten Frauen sorgt der höhere Körperfettanteil dafür, dass fettlösliche Arzneimittel gespeichert werden. Bei Aufnahme über die Haut beeinflusst der Fettgehalt der Haut die Speicherung.
Frauen haben kleinere und weniger Nierenkörperchen. Abbauprodukte von Arzneimitteln werden deshalb weniger gut ausgeschieden. Frauen sollten deshalb besonders viel trinken. Im Alter werden die Nierenkörperchen schneller abgebaut – eine ausreichende Trinkmenge wird dann noch wichtiger.
Unerwünschte Arzneimittelreaktionen sind bei Frauen fast doppelt so häufig wie bei Männern.
Frauen neigen mehr als Männer dazu, Erkrankungen durch freiverkäufliche Arzneimittel zu kurieren bzw. ärztliche Verordnungen durch Eigenmedikation zu ergänzen.
Neugierig auf mehr?
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