Pronova BKK: Marie-Theres, wie fing bei dir damals alles an?
Marie-Theres: Ich war 19, hatte gerade Abi gemacht, Liebeskummer – und keinen Appetit mehr. Gleichzeitig bekam ich zum 1. Mal richtig viele Komplimente: wie gut ich aussehe. Freundinnen sagten: „Du bist jetzt richtig attraktiv.“ Ich fühlte mich zwar innerlich leer, aber äußerlich „erfolgreich“. Ich dachte: Wenn das so gut ankommt, muss ich das halten.
Pronova BKK: Marie-Luise, bei dir begann es noch früher, oder?
Marie-Luise: Ja, mit 13. Ich kam früh in die Pubertät, sah anders aus als die anderen und fing an, Diäten zu machen. Ich habe Essen nicht mehr als Nahrung gesehen, sondern als Zahl. Ein Apfel war nicht mehr ein Apfel, sondern 50 kcal. Später entwickelte ich ein Binge-Eating-Verhalten. Und irgendwann entdeckte ich das Erbrechen. Zunächst als „Trick“ nach Partys, dann als Regelmäßigkeit. Was ich aber lange nicht verstanden habe: Die eigentliche Ursache war eine Depression. Ich war innerlich leer, traurig, orientierungslos – und die Essstörung wurde zur Strategie, das alles irgendwie auszuhalten.
Pronova BKK: Hast du das schon damals so erkannt?
Marie-Luise: Nein. Aber Jahre später hat eine Neurologin gesagt: „Die Bulimie war Ihre jugendliche Überlebensstrategie gegen die Depression.“ Das hat total Sinn ergeben.
Pronova BKK: Ab wann habt ihr euch Hilfe gesucht?
Marie-Luise: Viel zu spät. Ich war zu krank, um in niedrigschwellige Angebote zu passen, aber gleichzeitig nicht „krank genug“, um ernst genommen zu werden. Eine Therapeutin sagte nach der 1. Sitzung: „Wir sehen uns in 4 Wochen wieder.“ Ich wusste nicht mal, wie ich die nächsten 24 h schaffen sollte.
Marie-Theres: Bei mir war es ähnlich. Ich dachte lange: Ich darf keine Hilfe suchen, weil ich ja nicht „dünn genug“ bin. In einer Praxis hat man mich abgelehnt, weil ich nicht unter dem Gewichtslimit lag. Ich fand das absurd. Ich war mitten in einer Essstörung, aber offenbar nicht sichtbar genug.
Pronova BKK: Was hat euch letzlich rausgeholt?
Marie-Theres: Ich habe irgendwann in der Schauspielschule vor allen gesagt: „Mir geht’s nicht gut.“ Das war verrückt, aber heilend. Ich konnte Leute bitten, mit mir zu essen, damit ich mich nicht heimlich übergebe. Ich habe verstanden: Die Essstörung war ein kreativer Lösungsversuch meines Systems, das außer Kontrolle geraten ist. Was uns ankotzt, kotzen wir eben aus.
Marie-Luise: Für mich war die Bühne ein Ausweg. Ich habe ein Stück über meine Bulimie geschrieben und es in Schulen gespielt. Danach kamen Jugendliche zu mir und sagten: „Jetzt verstehe ich, was mit mir los ist.“ Das hat mich bestärkt: Ich will mit meiner Geschichte anderen Mut machen. Bulimie ist die Krankheit, die hinter verschlossenen Klotüren passiert. Ich wollte diese Tür aufmachen.