Eine seelische Erkrankung kommt selten allein
Wenn mehrere psychische Erkrankungen gleichzeitig auftreten, nennen Fachleute das Komorbidität. Und das kommt gar nicht so selten vor: Laut Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit sind Essstörungen z. B. besonders häufig mit Depressionen oder Angststörungen verbunden. Diese Kombination kann die Beschwerden verstärken und den Weg zur Besserung erschweren.
Die Thematik erinnert ein bisschen an das Henne-Ei-Problem: Denn ob das Essen Auswirkungen auf die Seele hat oder die Seele den Umgang mit dem Essen beeinflusst, lässt sich nicht immer eindeutig sagen. Marie-Luise Gunst war selbst betroffen: „Ich kam früh in die Pubertät, sah anders aus als die anderen und fing an, Diäten zu machen. Später entwickelte ich ein Binge-Eating-Verhalten. Und irgendwann entdeckte ich das Erbrechen. Was ich aber lange nicht verstanden habe: Die eigentliche Ursache war eine Depression. Ich war innerlich leer, traurig, orientierungslos – und die Essstörung wurde zur Strategie, das alles irgendwie auszuhalten.“
Zu den Risikofaktoren zählen etwa ein geringes Selbstwertgefühl, Perfektionismus und eine hohe Sensibilität für Kritik und Ablehnung. Betroffene nutzen das eigene Essverhalten – z. B. extremes Hungern oder übermäßiges Essen – oftmals als Strategie, um mit Gefühlen wie innere Leere, Angst oder Traurigkeit umzugehen oder sie zu kontrollieren. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen können Essstörungen und Depressionen schwere Auswirkungen auf die körperliche und emotionale Gesundheit haben. Umso wichtiger ist es, sie frühzeitig zu erkennen und professionell zu behandeln.
Essen und Psyche: ein Teufelskreis
Das Tückische: Essstörungen und Depressionen verstärken sich gegenseitig. Wer depressiv ist, dem fehlt häufig die Kraft etwas zu verändern und der greift nicht selten zu ungesunden Lebensmitteln oder quält sich mit Schuldgefühlen, wenn sie oder er das „Falsche“ oder zu viel gegessen hat. Diese Gefühle wiederum ziehen einen emotional noch weiter runter – und erschweren es, den Kreislauf mit eigener Kraft zu durchbrechen. Auch Hilfe zu suchen oder anzunehmen, um etwas zu ändern, fällt vielen Betroffenen schwer. Auch deshalb erschwert eine Depression die Behandlung einer Essstörung.
„In einer depressiven Episode habe ich oft große Selbstzweifel, das hat vor allem in meiner Jugend dazu geführt, dass ich ständig gegen meinen Körper gekämpft, ihn sogar gehasst habe. Auch die Antriebs- und Gefühllosigkeit der Depression war ein Nährboden für die Essstörung. Ich konnte mich und meinen Körper nicht spüren oder Gefühle, wie Hunger, richtig einordnen. Mein Körper war eine Art ‚Fremdkörper‘, er gehörte nicht zu mir. Das hat mich dann noch tiefer in die Depression getrieben. Es war lange Jahre eine Wechselwirkung – oder besser: ein Teufelskreis“, erzählt Marie-Luise. Ihre Neurologin sagte irgendwann: „Die Essstörung war der 1. Versuch deiner Seele, mit der Depression klarzukommen.“ Heute hat Marie-Luise einen Werkzeugkoffer, um mit ihrer Depression umzugehen: „Die Essstörung nehme ich nicht mehr zur Hand. Aber die Depression bleibt – und ich muss mit ihr umgehen.“