Leben mit Behinderung: Was echte Allyship bedeutet

Menschen mit Behinderung sind Teil unserer Gesellschaft – und trotzdem oft ausgeschlossen. Echte Inklusion heißt: Wir verändern unsere Welt so, dass alle dazugehören. Ohne Wenn und Aber. Was fehlt? Haltung, Mut und echte Verbündete.

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Illustration einer Gruppe von Personen mit und ohne Handycap
Menschen mit Behinderung sind Teil unserer Gesellschaft – und trotzdem oft ausgeschlossen. Echte Inklusion heißt: Wir verändern unsere Welt so, dass alle dazugehören. Ohne Wenn und Aber. Was fehlt? Haltung, Mut und echte Verbündete.

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Eine Gesell­schaft für alle

Ob körperlich, geistig oder sozial – jede*r bringt individuelle Voraussetzungen ins Leben mit. Menschen mit Behinderung sind keine Randgruppe, sondern ein Teil unserer Gesellschaft. Und trotzdem: Noch immer werden sie im Alltag übersehen, ausgeschlossen oder auf ihre Einschränkungen reduziert. Dabei geht es längst nicht nur um Rollstuhlrampen oder Gebärdensprachdolmetscher*innen, sondern um ein grundsätzliches Umdenken.

Inklu­sion ist mehr als Dabei­sein

Wer über Inklusion spricht, meint oft Integration. Doch zwischen beiden Begriffen liegt ein großer Unterschied. Integration bedeutet: Menschen mit Behinderung dürfen teilnehmen, wenn sie sich an bestehende Strukturen anpassen. Inklusion dagegen heißt: Die Strukturen selbst werden so gestaltet, dass alle gleichberechtigt mitwirken können – unabhängig von ihren körperlichen oder kognitiven Voraussetzungen.

Ein Beispiel: Wird eine Schülerin mit Behinderung in eine bestehende Klasse aufgenommen, bekommt sie vielleicht eine Assistenz und darf am Rand des Geschehens mitlaufen. Der Unterricht bleibt aber auf die Mehrheit ausgerichtet. Das ist Integration. Inklusion bedeutet dagegen: Der Unterricht ist von Anfang an so gestaltet, dass alle mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und Bedürfnissen gleichberechtigt teilhaben können – ohne Sonderrolle. Der Unterschied wirkt auf den 1. Blick gering, ist aber gesellschaftlich enorm.

Denn Inklusion erfordert mehr als gute Absichten. Sie verlangt konkrete Maßnahmen: barrierefreie Arbeitsplätze, durchdachte Stadtplanung, echte Beteiligung an Bildung und Politik. Dass es daran noch mangelt, zeigt die Kritik der Vereinten Nationen (UN): Deutschland verfehle in vielen Bereichen die Vorgaben der Behindertenrechtskonvention. Besonders bei der schulischen Inklusion, dem Zugang zum Arbeitsmarkt und der Mobilität sieht die UN erheblichen Nachholbedarf.

Warum wir echte Verbün­dete brauchen

Inklusion kann nicht allein von denen getragen werden, die von Ausgrenzung betroffen sind. Es braucht Menschen ohne Behinderung, die bereit sind, mitzudenken, mitzugestalten und gegebenfalls auch mal Platz zu machen. Das nennt sich Allyship. Gemeint ist damit eine Haltung solidarischer Verbundenheit: zuhören, unterstützen, Verantwortung übernehmen.

Allys, also Verbündete, sind keine Retter*innen. Sie sprechen nicht über, sondern mit Betroffenen. Sie nutzen ihre eigene gesellschaftliche Position, um Barrieren sichtbar zu machen und zu beseitigen. Das kann im Kleinen beginnen: auf Barrierefreiheit bei Veranstaltungen achten, diskriminierende Sprache ansprechen und vermeiden, Zugänge schaffen statt ausschließen.

Es geht auch darum, eigene Privilegien zu reflektieren: Wer kann einfach Bahn fahren, wohnen, studieren, ohne auf Hindernisse zu stoßen? Wer wird gehört, wer ignoriert? Wer hat Macht, wer wird übergangen? Diese Fragen betreffen nicht nur die „anderen“. Sie zeigen, wie viel noch zu tun ist, und dass Veränderung bei uns selbst beginnt.

Glühbirne

Es bewegt sich was – aber nicht genug

Deutschland hat 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Seither ist das Recht auf Teilhabe gesetzlich verankert – in Schule, Beruf und Alltag. Es gibt inklusive Schulkonzepte, Förderprogramme wie das Budget für Arbeit, mehr Barrierefreiheit im öffentlichen Raum und zahlreiche engagierte Initiativen. Trotzdem bleibt Inklusion oft Stückwerk: Viele Kinder besuchen weiter Förderschulen. Barrieren sind im Alltag an der Tagesordnung. Und etliche Unternehmen umgehen die Beschäftigungspflicht für Menschen mit Behinderung.

5 Tipps für mehr Allyship

  • Hör zu, ohne sofort zu bewerten:
    Nimm die Perspektive deines Gegenübers ernst, ohne sie direkt abzulehnen, auch wenn sie dir fremd ist.
  • Frage nach Barrieren, nicht nach Diagnosen:
    Es geht nicht darum, was jemand hat, sondern was jemand braucht.
  • Mach physische und digitale Räume zugänglich:
    Denk an Rampen, Untertitel, einfache Sprache oder kontrastreiche Gestaltung.
  • Gib Betroffenen das Wort:
    Sprich nicht über, sondern mit Menschen mit Behinderung – auf Augenhöhe.
  • Stell deine Privilegien in Frage:
    Wo bewegst du dich selbstverständlich – und wem bleibt dieser Zugang verwehrt?

Barriere­frei­heit nützt allen

Was viele vergessen: Inklusion nützt nicht nur Menschen mit Behinderung. Ein barrierefreier Fahrstuhl hilft auch Eltern mit Kinderwagen. Eine leicht verständliche Sprache unterstützt nicht nur Menschen mit Lernbehinderung, sondern auch Menschen mit geringen Deutschkenntnissen. Teilhabe ist kein Bonus, sondern Voraussetzung für eine solidarische Gesellschaft.

Barrierefreiheit betrifft uns alle. Wenn nicht heute, dann vielleicht morgen. Denn niemand ist vor Krankheit, Unfall oder oder Beschwernissen des Alters gefeit. Eine inklusive Gesellschaft bevorzugt nicht eine Minderheit, sondern verbessert die Bedingungen für alle. Es geht darum, Bedingungen zu schaffen, die Selbstbestimmung und Zugehörigkeit ermöglichen. Für jede Lebensphase und jede Lebensrealität.

Der Weg dahin ist nicht einfach. Aber er ist machbar, wenn wir beginnen, Vielfalt nicht als Problem, sondern als Stärke zu sehen. Und wenn wir aufhören, Menschen mit Behinderung als „die anderen“ zu begreifen. Denn am Ende geht es nicht nur um Inklusion – es geht um Gerechtigkeit.

Foto Janis McDavid

„Worum es am Ende geht: Vorurteile immer wieder in Frage zu stellen.“

Janis McDavid zeigt, wie ein Leben ohne Arme und Beine nicht nur möglich ist, sondern voller Energie, Mut und Visionen stecken kann.

Anders fühlte sich Janis McDavid ganz lange nicht. „Ich hatte Glück. Meine Eltern haben mir als Kind eine Welt aufgebaut, in der ich völlig normal war. Genauso wie ich ohne Arme und Beine zur Welt gekommen bin, hatte ich blonde Locken. Für mich war beides mehr oder weniger auf derselben Ebene“, erinnert er sich. Wenn andere Kinder zu ihm kamen und fragten „Hey, warum hast du keine Arme und Beine?“ war er irritiert. Natürlich war ihm bewusst, dass bei ihm etwas „anders“ ist, dass er einen Rollstuhl fährt und andere Kinder nicht. Einen Unterschied machte das für ihn aber nicht.

Dann wird Janis 8 Jahre alt – und als er eines morgens sein Spiegelbild erblickt, ist er plötzlich zutiefst schockiert. „Das, was ich da im Spiegel sah, passte überhaupt nicht mit meinem Selbstbild zusammen“, erzählt er. „Dort im Spiegel war plötzlich ein Körper bestehend aus Kopf und Rumpf. Das sah extrem merkwürdig aus. In diesem Moment habe ich mich zum 1. Mal für mein Aussehen geschämt.“ Das Bewusstsein über die Tragweite seiner Behinderung und die Scham sind neu für ihn. Damit kann sein 8-jähriges Ich nur schwer umgehen. Sein Gedanke in diesem Moment: „Oh Gott, siehst du grässlich aus!“

Psychisch verändert das einiges: „Diese Leichtigkeit, dieses Selbstverständliche ‚Naja, ich habe keine Arme und Beine – so what!‘ ging verloren. Ich habe mich als Kind ja von nichts aufhalten lassen. Ich habe alles mitgemacht. Ich hatte Freunde, wir haben mit dem Rollstuhl rumgealbert … Das wurde danach schwieriger“, sagt Janis. Die Blicke anderer beginnen, ihn zu stören, Freundschaften zu knüpfen fällt ihm schwerer. Nach außen bleibt er zwar selbstbewusst, aber rückblickend weiß Janis: „Das war wie eine Mauer, wie ein Schutzschild, das ich vor mir hergetragen habe. Heute würde ich sagen, das war kein gesundes Selbstbewusstsein, sondern eine Art der Verteidigung.“

In der Schule fühlt Janis sich, je nach Unterricht, ausgegrenzt. Die größte Herausforderung ist der Sportunterricht, vor allem der Schwimm- und Tanzunterricht. Oft steht er nur dabei, statt mitzumachen. Auch das nagt an seinem Selbstbewusstsein. „Die Lehrkräfte kannten sich nicht aus, waren vielleicht auch nicht mutig genug oder hatten Angst, etwas falsch zu machen. In einem inklusiven Kontext waren sie nicht korrekt ausgebildet“, sagt er. Insgesamt ist seine Schulzeit aber ein positives Erlebnis, weil am Ende des Tages alle an einem Strang ziehen.

In der Pubertät kommt Janis schließlich an den Punkt: „Du hast jetzt 2 Möglichkeiten: Entweder, du hast weiterhin ein Problem mit deiner Behinderung, schämst dich, machst dich weiter selbst runter. Oder du akzeptierst es, wie es ist.“ Er fragt sich: „Was bringt mir im Leben mehr?“ Heute sagt er: „Es bringt mir viel mehr, mich so anzunehmen, wie ich bin. Heute finde ich mich sogar ganz cool. Ich würde es nicht mehr anders haben wollen. Das ist natürlich viel Arbeit – aber am Ende auch das Ziel.“

Janis dreht den Spieß um: „Ich finde es spannend, Dinge zu tun, die man von mir nicht erwartet, und der Gesellschaft so einen Spiegel vorzuhalten.“ Seine Vision: Dahinkommen, wo er als Kind war. Dass eine Behinderung nichts anderes ist, als blonde Locken zu haben. „Behinderung ist am Ende des Tages ein menschengemachtes, theoretisches Konstrukt. Und ich sage: Würden wir unsere Welt anders bauen, wäre ich in wesentlich weniger Situationen behindert. Eigentlich bin nicht ich derjenige, der die Behinderung hat. Sondern ich lebe in einer Welt, die anders gebaut wurde als z. B. für Menschen im Rollstuhl.“ Zu Janis‘ Hobbys zählen, wie er sagt, einige verrückte Dinge: Mit dem Rennwagen über den Hockenheimring pesen, mit Freunden den Kilimanjaro besteigen – und Schwimmen. „Wir als Community müssen dahinkommen, dass wir die Menschen, die sagen: ‚Das geht nicht. Das kannst du nicht.‘ nicht aus der Verantwortung lassen. ‚Du lebst mit einer Behinderung‘ ist kein Argument.“

Seine ganze Geschichte erzählt Janis in unserem Podcast „Jetzt mal ehrlich“.

Foto Anieke Fimmen

Interview: „In Deutschland sind wir noch nicht so fortschrittlich, wie wir das manchmal glauben.“

Der Sozialverband Deutschland e. V. setzt sich für die Rechte von sozial benachteiligten Menschen ein. Dazu gehören auch Menschen mit Behinderung. Anieke Fimmen Referentin Abteilung Sozialpolitik, Sozialverband Deutschland e. V., im Interview.

Pronova BKK: Anieke Fimmen, was bedeutet Behinderung?

Ich sage gern: Ich lebe mit einer Behinderung. Denn wir sind nicht behindert, sondern unser Umfeld behindert uns daran, gleichberechtigt an der Gesellschaft teilzunehmen. Behinderungen sind Umwelteinflüsse, die dazu führen, dass wir Dinge nicht so leicht und so schnell machen können, wie Menschen, die ohne eine Behinderung leben.

Pronova BKK: Welche Herausforderungen erfahren Menschen mit Behinderung im Alltag?

Die fehlende Barrierefreiheit, z. B. auf dem Wohnungsmarkt, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder am Arbeitsplatz, ist ein Problem. Wenn ein Aufzug nicht funktioniert, kommen Menschen mit Behinderung evtl. nicht zur Arbeit. Ist das Bürogebäude nicht barrierefrei, kann man noch so gut ausgebildet sein: Man wird den Job nicht bekommen.

Pronova BKK: Teilhabe, Gleichberechtigung, Inklusion – wie schneidet Deutschland im Vergleich ab?

Bei der Staatenprüfung in Genf wurde Deutschland gerügt. Das heißt: Wir sind durchgefallen, was die UN-Behindertenrechtskonvention angeht. Aber ein Blick in andere Länder zeigt: Es geht, wenn man will. Die skandinavischen Länder z. B. sind schon sehr weit, was Inklusion und vor allem auch das Mindset angeht. Menschen mit Behinderung werden dort als gleichberechtigte Bürger*innen angesehen, die dieselben Rechte und Pflichten haben wie alle anderen Menschen auch.

Pronova BKK: Gibt es noch viele Berührungsängste?

Viele sind sehr bemüht, inklusiv zu denken. Aber ja, es sind Berührungsängste da. Niemand möchte etwas falsch machen – und dann lässt man es doch ganz. Das ist eine Vorsicht, die nicht angebracht ist. Wenn es keine Begegnung gibt, kann man diese Ängste nicht abbauen. Das versuchen wir im Verband aufzubrechen: Habt doch mal Mut!

Pronova BKK: Wird hierzulande mehr Unterstützung benötigt?

Wir haben ein sehr gutes Sozialsystem, um das uns viele Länder beneiden. Aber: Man braucht Nerven wie Drahtseile. Wir müssen effizienter werden.

Pronova BKK: Wie können wir alle die Situation verbessern?

Wir sollten hauptsächlich den Menschen sehen. Und nicht ständig die Behinderung oder was dieser Mensch nicht kann. Diese Menschen können unglaublich viel, die sind auch wahnsinnig kreativ. Man sollte es einfach mal als Stärke begreifen, dass Menschen mit Behinderung anders sind, und sagen: Das ist gut so, dass wir alle so sind, wie wir sind.

Zahlen kompakt

57 % der Menschen mit Schwerbehinderung haben eine körperliche Behinderung. Diese Gruppe setzt sich wie folgt zusammen:

  • 26 % innere Organe bzw. Organsysteme
  • 11 % Arme und / oder Beine
  • 10 % Wirbelsäule und Rumpf
  • 4 % Sehbehinderung oder Blindheit
  • 4 % Schwerhörigkeit, Gleichgewichts- oder Sprachstörungen
  • 2 % Verlust einer oder beider Brüste

Die restlichen 43 % verteilen sich wie folgt:

  • 15 % geistige / seelische Behinderung
  • 9 % zerebrale Störung
  • 19 % unbekannt

Weitere Zahlen

7,9 Mio.

Menschen mit ­ schwerer Behinderung, also einem Grad der Behinderung von mind. 50, lebten Ende 2023 in Deutschland. Das entspricht 9,3 % der Gesamtbevölkerung. 50,1 % davon sind Männer, und 49,9 % Frauen.

9 von 10

schweren Behinderungen werden durch eine Krankheit verursacht. Anders ausgedrückt: Knapp 91 % der schweren Behinderungen wurden 2023 durch eine Krankheit verursacht, rund 3 % waren angeboren oder traten im 1. Lebensjahr auf. 1 % der Behinderungen waren auf einen Unfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführen.

50 %

der Menschen mit Schwerbehinderung waren 2023 zwischen 55 und 74 Jahre alt. Rund 1/3 war älter als 74 Jahre und nur 3 % bzw. 214.000 waren Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.

Ein großer Teil der arbeitsuchenden Menschen mit Schwerbehinderung hat eine abgeschlossene Berufsausbildung oder einen Studienabschluss. Die Arbeitslosenquote unter Menschen mit Schwerbehinderung liegt allerdings seit Jahren über der allgemeinen Quote – zuletzt etwa bei 11 % (vs. ca. 5 % in der Gesamtbevölkerung).

Quellen: Statistisches Bundesamt (2023), Bundesagentur für Arbeit

Info

Schon gewusst?

Nicht jede Behinderung oder Erkrankung ist auf den 1. Blick sichtbar. Erfahre hier, welche unsichtbaren Krankheiten und Behinderungen es gibt.