Mediennutzung in der Familie: Tipps vom Experten

Bei der Nutzung digitaler Medien sind Eltern dem Nachwuchs gegenüber nachgiebig und gewähren viele Freiheiten, wie die Studie „Junge Familien 2023“ der Pronova BKK zeigt. Folgen werden unterschätzt.

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 Clemens Beisel, Medienexperte, Diplom-Sozialpädagoge und Sozialmanager, im Interview mit der Pronova BKK.
Bei der Nutzung digitaler Medien sind Eltern dem Nachwuchs gegenüber nachgiebig und gewähren viele Freiheiten, wie die Studie „Junge Familien 2023“ der Pronova BKK zeigt. Folgen werden unterschätzt.

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Eltern sind Vorbilder für ihre Kinder. Auch bei der Nutzung digitaler Medien. Doch die meisten Mütter und Väter räumen ein, sich selbst zu oft vom Handy oder der Netflix-Serie ablenken zu lassen. „Ein vertrauensvoller Kontakt zum Kind ist in Zeiten von Social Media noch wichtiger geworden“, sagt Clemens Beisel, der als Medienexperte für die Pronova BKK tätig ist. Der Diplom-Sozialpädagoge und Sozialmanager ordnet die Studienergebnisse ein und gibt Rat, was Eltern tun können, um ihre Kids in der digitalen Welt gut zu begleiten.

Pronova BKK: Clemens, die meisten Eltern (78 %) halten sich in Sachen Mediennutzung für gute Vorbilder. Obwohl gleichzeitig 62 % der Befragten sagen, sie würden selbst zu viel Zeit mit Handy, Computer und Smart-TV verbringen. Wie kommt es zu dieser Diskrepanz?

Clemens Beisel: Das Ergebnis überrascht mich nicht. Denn Eltern machen am Bildschirm ganz andere Dinge als ihre Kinder. Sie schreiben E-Mails, schauen Nachrichten oder machen Online-Banking. Das heißt, wir dürfen nicht nur auf die Zeit schauen, sondern auch auf das, was wir am Bildschirm tun.

Pronova BKK: Jede 2. Mutter oder jeder 2. Vater hat demnach schon mal das eigene Kind überhört, weil eine WhatsApp-Nachricht aufleuchtete oder die Lieblingsserie läuft. Was macht das mit Kindern, wenn Eltern ständig abgelenkt sind?

Clemens: Kinder brauchen die Aufmerksamkeit ihrer Eltern, um ein gutes Selbstwertgefühl entwickeln zu können. Wenn Eltern oft abgelenkt sind und nur noch auf den Bildschirm schauen, ist das nicht förderlich fürs Kind, die Eltern-Kind-Beziehung leidet. Mütter und Väter sollten deshalb mit gutem Beispiel vorangehen. Nach dem Motto: „Du bist mir wichtig. Für dich lege ich gern mein Handy weg."

Pronova BKK: Wie können Eltern ein gutes Vorbild sein?

Clemens: Mütter und Väter sollten früh vermitteln, dass es Situationen gibt, bei denen das Handy nicht stören soll. Z. B. beim gemeinsamen Essen, beim Schlafen gehen, bei den Hausaufgaben, bei der Arbeit, in der Schule und im Straßenverkehr. Eltern sollten gemeinsam mit ihren Kindern Regeln aufstellen. Der Studie zufolge geschieht dies auch schon bei fast jeder 2. Familie. Allerdings würde ich mir von mehr Eltern wünschen, dass diese Regeln auch eingehalten werden. Das gehört auch zur elterlichen Vorbildfunktion und zur Erziehung.

Pronova BKK: Hast du einen Rat?

Clemens: Eltern sollten sich das technische Wissen aneignen, um aus dem Handy die quantitative Nutzung auslesen zu können. Bei vielen Messenger-Diensten ist z. B. in den Einstellungen einsehbar, wie viele Nachrichten ich sende und empfange. Dann setze ich mich 1x im Monat mit meinem Kind hin und rechne aus, wie viele es bei ihm oder ihr pro Tag sind. Bei älteren Kindern und Teenagern erlebe ich in meinen Workshops, dass Kinder bereits ab der 5. Klasse auf mehrere 100 Nachrichten pro Tag kommen. Das ist schockierend. Über solche Zahlen müssen Eltern mit ihren Kindern sprechen und gemeinsam überlegen, was davon notwendig ist und was ablenkt.

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Pronova BKK: Wie viel Vertrauen und wie viel Kontrolle findest du sinnvoll?

Clemens: Je jünger die Kinder sind, desto mehr Kontrolle würde ich mir von Eltern wünschen. Der Tenor muss lauten: „Ich kümmere mich um dich, weil du mir wichtig bist. Deshalb schauen wir gemeinsam auch ab und zu in deine Chats. Es ist ein großer Vertrauensvorschuss, wenn du WhatsApp jetzt schon hast. Wenn ich sehe, dass das gut läuft, dann schaue ich mit dir da nicht mehr so oft rein." Das gilt für Kinder unter 14 Jahren. Ich würde es aber nicht nur am Alter festmachen, sondern individuell entscheiden, wie gut mein Kind mit den digitalen Medien umgeht. Ich bin kein Freund davon, Kinder auszuspionieren. Aber Eltern dürfen Kindern und Jugendlichen das Handy nicht einfach selbst überlassen.

Pronova BKK: Bitte erläutere das!

Clemens: In Klassenchats beispielsweise kommt alles vor – Gewalt, Rassismus, Sexismus und Pornografie. Ein guter Kontakt zum Kind ist darum in Zeiten von Social Media noch wichtiger geworden. Das bedeutet, möglichst früh mit dem Kind über Medienkonsum und die konsumierten Inhalte zu reden. So entsteht ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis. Irgendwann kommt aber auch der Punkt, an dem Eltern loslassen und dem Kind vertrauen müssen. Das ist die Königsdisziplin.

Pronova BKK: Wo können sich Eltern Unterstützung holen?

Clemens: Die Pronova BKK bietet zum Beispiel den digitalen Elternabend, den wir von „Clemens hilft!", inhaltlich aufbereiten. Hier erfahren Interessierte, wie viel Online-Nutzung für Kinder okay ist. Zu jedem Video sind Handouts mit weiterführenden Links zu seriösen Internetseiten hinterlegt. Außerdem empfehle ich gern die Website medien-kindersicher.de der Landesanstalten für Medien und Kommunikation in Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und der Initiative Klicksafe. Hier wird gut erklärt, wie Eltern Leitplanken in Form von technischen Grenzen setzen können. Die Internetseite klicksafe.de informiert wiederum sehr gut über neue Apps. Wenn es um Spiele geht, finde ich den spieleratgeber-nrw.de sehr gut. Es lohnt sich auch, den Kindersoftwarepreis tommi.kids zu kennen, der jährlich die besten Videospiele kürt.

Pronova BKK: Welche Folgen hat ein zu hoher Medienkonsum für Kinder?

Clemens: Es gibt erste Studien, die zeigen, dass ein hoher Medienkonsum zu schlechteren schulischen Leistungen führen kann. Der Psychologe Christian Montag hat diese Korrelation in seinen Arbeiten festgestellt. Aber es handelt sich dabei um ein relativ junges Thema für die Forschung, da Smartphones die breite Masse an jungen Leuten erst seit etwa 7-8 Jahren erreicht haben. Zudem deuten Studien darauf hin, dass eine hohe Social-Media-Nutzung psychische Erkrankungen wie z. B. Depressionen triggern kann.

Pronova BKK: Gibt es auch eine zu geringe Online-Mediennutzung, sodass Jugendlichen bestimmte Kompetenzen fehlen?

Clemens: Ein klares Nein. Es ist nicht so, dass Kinder am Smartphone programmieren lernen oder lernen, wie eine Drohne fliegt. Manche Kinder tun das. Aber die breite Masse nutzt das Handy zum Chatten mit Freund*innen und zum Spielen. Das sind keine Kompetenzen, die ich mir nicht auch noch später aneignen könnte.

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Pronova BKK: Knapp 4 von 10 Eltern sorgen sich im Zusammenhang mit digitalen Medien um TikTok-Challenges. Wie bewertest du die Gefahr?

Clemens: Die Studie der Pronova BKK zeigt: 3/4 sorgen sich, dass ihr Kind in Kontakt mit gefährlichen Menschen kommt, gefolgt noch von der Besorgnis, mediensüchtig zu werden. An 3. Stelle kommt die Angst vor Challenges, also z. B. selbstverletzendem oder kriminellem Verhalten. Spektakuläre Fälle gehen durch die Medien, wie spezielle Mutproben in sozialen Netzwerken. Diese Besorgnis ist nachvollziehbar und berechtigt. Ich sehe aber auch große Gefahren bei Schönheitsfiltern, bei Beleidigungen, bei Klassenchats, beim Druck, in einer Gruppe nicht dabei sein zu dürfen. Ich sehe die Gefahren bei Rassismus, der getarnt als Humor rüberkommt, bei Videos aus Kriegsgebieten, bei Adolf-Hitler-Stickern, bei gewaltverherrlichenden Kurzfilmen, in denen Tiere abgeschlachtet werden. Darüber wird viel zu wenig gesprochen. Das Erschreckende ist: Fast jedes Kind kommt damit in einem Klassenchat mindestens 1x in Berührung.

Pronova BKK: Je älter die Kinder, umso weniger Wissen haben Eltern über deren Internetaktivität. Wie sollten Erwachsene reagieren, wenn ihr Nachwuchs sie ins Vertrauen zieht?

Clemens: Wenn ein Kind so ehrlich ist und zugibt, dass da im Chat etwas Schlimmes gezeigt oder geschrieben wurde, sollten Eltern das Kind nicht bestrafen oder ihm das Handy wegnehmen, sondern sagen: „Danke, dass du mit mir darüber gesprochen hast." Dann macht zusammen einen Screenshot und meldet den Absender. Ich frage ganz oft in Schulklassen: „Warum hast du das nicht mal deinen Eltern gezeigt?" Fast immer bekomme ich die Antwort: „Dann hätten die mich gezwungen, den Chat zu verlassen und ich würde nichts mehr von meiner Klasse mitbekommen."

Pronova BKK: Hast du noch weitere Tipps?

Clemens: Stellt gemeinsam Familienregeln auf. Ich bin z. B. für einen Feierabend vom Handy. Die einfache Regel bei jüngeren Kindern: Der Bildschirm bleibt ab 20 Uhr aus. Bei 15- bis 16-Jährigen ab 22 Uhr. Ich erlebe es leider sehr häufig in meinen Workshops, dass Kinder noch bis 24 Uhr oder sogar bis 2 Uhr morgens am Handy sind. Ich bin für eine Regulierung der Gesamtzeit. Z. B. über Ruhe-Funktionen oder Family-Einstellungen bei den Geräten. Außerdem sollte es nicht unendlich viele Spiele auf dem Handy geben. Bei 3-5 Spielen kann ich noch den Überblick behalten. Wenn mein Kind 40 Spiele auf dem Handy hat, dann ist der Zug für Eltern abgefahren, etwas Überblick zu behalten. Mit Kindern im guten Kontakt bleiben, heißt auch, sich für ihre Spiele zu interessieren und sie selbst mal auszuprobieren. In ihre Welt eintauchen kann hilfreich sein. Genauso wichtig ist es, dem Kind andere Impulse zu geben, es für ein Hobby zu begeistern. Wer z. B. schon in jungen Jahren erfahren hat, dass Sport beim Stressabbau hilft, der wird dies wahrscheinlich auch später noch tun. Es muss nicht Sport sein. Bei anderen ist es vielleicht das Bücherlesen oder ein Instrument spielen. Das ist sehr individuell. Aber es sollte früh verinnerlicht werden.

Info

Zur Studie

Die Befragung „Junge Familien 2023“ gibt einen Überblick über Einstellungen und Stimmungen von Familien mit minderjährigen Kindern im Haushalt. Schwerpunkte sind das Freizeitverhalten vor und nach der Corona-Pandemie sowie die Nutzung von digitalen Medien. Für die Studie wurden im Juli 2023 insgesamt 1.000 Menschen in Deutschland mit mindestens einem minderjährigen Kind im Haushalt befragt.