Psychische Gesundheit in der Krise: Aktuelle Studie der Pronova BKK

Dauerkrisen haben zur Zunahme psychischer Leiden geführt. Anfragen bei Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen haben sich laut unserer Studie „Psychische Gesundheit in der Krise“ fast verdoppelt.

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Eine illustrierte Frau sitzt auf einem Bett.
Dauerkrisen haben zur Zunahme psychischer Leiden geführt. Anfragen bei Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen haben sich laut unserer Studie „Psychische Gesundheit in der Krise“ fast verdoppelt.

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Maskenpflicht und Quarantäne enden, die Menschen dachten, Corona sei jetzt vorbei. Doch 97 % der befragten Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen sagen, dass Corona weiterhin den größten Einfluss auf die Psyche der Deutschen hat. Warum ist das so?

Die Coronakrise hat alle Lebensbereiche der Menschen betroffen. Sie hat die Menschen vor Situationen gestellt, die sie sich bis dahin nicht haben vorstellen können. Gleichzeitig leben wir in einem sozialen System, das viel Schutz bietet. Die allermeisten Menschen sind weitestgehend ohne Gefahren – außer mit Erkrankungen oder persönlichen Schicksalsschlägen – sozialisiert. Die Coronakrise hat die gesamte Gesellschaft verunsichert. Die Übermacht und die Dauer der Einschränkungen sowie die teils gegensätzlichen Aussagen von Expert*innen haben die Menschen zutiefst irritiert. Sie sagen zu Recht: ‚Wer weiß, was da noch kommt!‘ Die vermeintliche Sicherheit, in der wir uns gefühlt haben, ist erschüttert.

Resilienz ist die Fähigkeit, Belastungssituationen auszuhalten. Expert*innen glaubten, dass eine überstandene Coronakrise diese Resilienz fördert und die Deutschen gestärkt aus der Pandemie hervortreten. Doch Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen werden weiterhin überrannt, 84 % diagnostizieren bei ihren Patient*innen Müdigkeit, Erschöpfung und Antriebslosigkeit. Woran liegt das?

Grundsätzlich können wir aus allen Krisen gestärkt hervorgehen, wenn wir sie erfolgreich meistern. Wir sind allerdings noch dabei, die Nachwehen der Coronakrise zu überwinden. Zudem haben sich parallel weitere Krisen eingestellt wie der Ukrainekrieg, die Inflation und hohe Energiekosten. Wir stehen großen Herausforderungen gegenüber. Von einem Überwinden der Krisen kann also noch keine Rede sein, weil wir von einer Stresssituation in die nächste übergehen. Auf den Zusammenhalt der Menschen kommt es jetzt an.

Führen Sie die häufigere Diagnose von Müdigkeit, Erschöpfung und Antriebslosigkeit auf Corona zurück oder gibt es dafür andere Ursachen?

Die Long-Covid-Patient*innen, die ich in meiner Praxis sehe, waren in vielen Fällen schon vorher wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung. Bei ihnen ist die Symptomatik, die sich nach der Covid-Infektion eingestellt hat, nicht oder kaum zu unterscheiden von den Leiden, die sie vielleicht schon vor 10 Jahren hatten, wo noch niemand Long-Covid kannte. Die Fälle lassen sich deshalb nur schwer abgrenzen. Es kann sich also um eine Long-Covid-Depression handeln oder aber um einen Rückfall.

87 % der Befragten berichten, dass die schnelle Folge von Krisen wie Corona, Ukrainekrieg und Inflation einen besonders negativen Einfluss auf die Psyche ihrer Patient*innen hat. Sind mehrere Krisen schlimmer als eine?

Ja, denn die Menschen sind von einer in die nächste Krise gerutscht – mitunter sogar in mehrere zeitgleich. Es gab kaum Freiraum, um die eigene Resilienz zu stärken. Verstehen Sie mich nicht falsch. Um Resilienz zu fördern, bedarf es keiner Schonung. Um Widerstandskraft aufzubauen, gilt es vielmehr, aktiv zu sein. Wir sollten unser Kreislauf- und Immunsystem stärken, moderaten Sport treiben. Wer sich erschöpft fühlt, sollte langsam die eigenen Anforderungen im Alltag steigern. Geduld und Nachsicht sind dabei wichtig.

Was können Menschen tun, um mit den Dauerkrisen umzugehen und ihre Resilienz wieder zu stärken?

Es geht darum, die eigenen Schutzmechanismen, die jede und jeder individuell erlernt hat, zu aktivieren. Dabei kann eine Psychotherapie helfen. Viele machen sich aber auch ohne Therapeut*in auf den Weg, um zu erfahren, was ihnen guttut. Sie machen Achtsamkeitstrainings oder belegen Meditationskurse. Resilienz können wir aber auch zu Hause fördern. Dazu ist es wichtig, sich im Alltag Pausen einzubauen oder kraftschenkende Aktivitäten auszuüben. Dies kann Sport sein, Musik hören oder Malen. Wir sollten uns unsere eigenen Stärken bewusst machen, zum Beispiel, indem wir sie aufschreiben oder mit vertrauten Personen darüber reden. Nur zu Hause bleiben und sich abschotten hilft jedoch nicht. Das ist keine Resilienz. Resilienz bedeutet, mit den Anstrengungen des Lebens und des Alltags gut und besser zurechtzukommen.

In der derzeitigen Krisensituation greifen viele verstärkt zu Alkohol und auch zu Medikamenten sowie mehreren Substanzen gleichzeitig. Was können Menschen tun, um anderen zu helfen?

Es muss den Betroffenen gespiegelt und rückgemeldet werden. Ein vertrauliches Gespräch unter vier Augen ist als erster Schritt hilfreich. Vorwürfe sollten aber vermieden werden, besser sind sogenannte Ich-Botschaften. Formulierungen wie ‚Ich habe den Eindruck, dass…‘ oder ‚Ich beobachte, dass…‘ anstelle von ‚Du trinkst zu viel.‘ verhindern, dass sich Menschen angegriffen fühlen und sich zurückziehen.

Was können Menschen tun, die mit einem Gesprächsangebot abgewiesen werden?

Sich nicht ermutigen lassen! Dem anderen signalisieren, dass Sie ein offenes Ohr haben. Es geht nicht darum, jemanden zu be- oder verurteilen. Im Gegenteil. Zu erkennen, dass es einem Menschen schlecht geht, ist eine Wertschätzung. Den Betroffenen tut die Rückmeldung meist sogar gut. Sie fühlen sich in ihrer Not gesehen. Menschen sollten die betroffene Person motivieren, sich an eine ärztliche Praxis oder eine Suchtberatungsstelle zu wenden. Bieten Sie vielleicht sogar an, dorthin mitzukommen. Die Beratung ist kostenfrei und anonym und steht auch Angehörigen offen.

93 % befragten Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen gehen zudem davon aus, dass die Dunkelziffer psychischer Probleme sehr hoch ist. Woran erkennen Betroffene, dass es Zeit ist, sich medizinischen Rat einzuholen?

Wenn jemand anhaltende Beschwerden von mehr als 2 Wochen hat und diese nicht gut einordnen kann, ist die erste Anlaufstelle die hausärztliche Praxis. Dort kann beispielsweise eingeordnet werden, ob eine Befindlichkeitsstörung oder Konfliktsituation vorliegt, für die nicht unbedingt eine Psychotherapeutin oder ein Psychotherapeut zu Rate gezogen werden muss. Hausärzt*innen können beraten und mit einem ersten Gespräch schon entlasten. Manchmal handelt es sich um Lebenssituationen, in denen es Unterstützung bedarf, aus denen jemand nicht ohne Hilfe herauskommt. Da geht es weniger um ein medizinisches Problem als um Lebensberatung – manchmal auch Schuldnerberatung. Liegt eine psychische Erkrankung vor, dann verordnen Hausärzt*innen Medikamente und/oder Psychotherapie oder überweisen an Kolleg*innen der psychosomatischen Medizin, Psychotherapie oder Neurologie. Diese Leistungen werden von der Krankenkasse übernommen.

Wie kann psychisch Erkrankten geholfen werden, die lange auf einen Therapieplatz warten müssen?

Zum einen mache ich Patient*innen Mut, dranzubleiben und die Telefonlisten immer wieder abzutelefonieren. Zudem ist es möglich, die Servicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen zu bemühen, die auch Psychotherapietermine vermitteln. Meine Erfahrung zeigt, dass Patient*innen, die sich intensiv um einen Therapieplatz bemühen, auch einen bekommen. Zum anderen kann ich Digitale Gesundheitsanwendungen – kurz DiGAs – empfehlen. DiGAs können Psychotherapie zwar nicht ersetzen, aber bei geringem Krankheitswert sind sie durchaus ausreichend. Es gibt sie für Burnout, Angststörungen, für Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit und viele andere.

Können DiGAs vorübergehend oder sogar langfristig bei Depressionen und psychischen Problemen helfen?

Die DiGA unterstützt Patient*innen bei der Behandlung ihrer Krankheit und hilft dabei, Symptome zu lindern. Allerdings ersetzt sie nicht komplett eine medikamentöse oder Psychotherapie, sondern greift unterhalb der Therapieschwelle. Eine digitale Anwendung ist zudem eine gute Möglichkeit, die Zeit bis zum Beginn einer Therapie zu überbrücken.

Wie bewerten Sie die Großwetterlage der Psyche der Deutschen?

Die Dauerkrisen haben zu einer Zunahme an psychischen Beschwerden geführt. Wenn Menschen ihre seelische Not nicht erklären können, führen sie ihre Beschwerden oft auf die Psyche zurück. Ob dann tatsächlich eine Erkrankung vorliegt, muss ein entsprechender Facharzt diagnostizieren und dann auch die notwendige Behandlung in die Wege leiten. An der Psyche zu erkranken, kann jeder oder jedem passieren. Zum Glück haben wir viele Hilfesysteme für Betroffene. Aber auch mit einer psychischen Erkrankung ist es möglich, ein wichtiges Glied der Gesellschaft zu sein und nicht aussortiert zu werden. In unserer Vorstellung jedoch haftet dem psychischen Kranksein immer noch ein Makel an. Die Stigmatisierung ist nicht mehr so stark wie vor 20 oder 50 Jahren, aber sie ist immer noch vorhanden. Um hier voranzukommen, wäre es wichtig, Patient*innen nicht mehr dauerhaft krank, sondern teilgesund zu schreiben. Unternehmen beispielsweise müssten ihren Mitarbeitenden anbieten, auch nur stunden- oder tageweise an ihren Arbeitsplatz zurückkehren zu dürfen, bevor sie längere Zeit fehlen. Psychisch Erkrankten würde diese Möglichkeit helfen, schneller wieder in die Aktivierung zu kommen.

Dr. Sabine Köhler, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie im Experteninterview mit der Pronova BKK

Dr. Sabine Köhler, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie vom Berufsverband Deutscher Nervenärzte (BVDN), ordnet die Studienergebnisse ein und gibt Rat, wie wir unsere Widerstandskraft zurückzugewinnen können.

Mehr Infos

Die Pronova BKK unterstützt dich schnell und kostenfrei mit verschiedenen Angeboten:

  • Novego: Online-Hilfe bei psychischen Belastungen
  • TeleClinic: Videosprechstunde immer und überall
  • Kompass: Ambulante Hilfe bei psychischen Erkrankungen

Mehr darüber erfährst du auf unserer Website unter Mentalen Gesundheit.

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